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München, um 1990

"Verstehende sind schwer zu finden"

Unter diesem Titel erschien am 28.Juli 1962 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Artikel von Sergiu Celibidache, eine seiner wenigen veröffentlichten schriftlichen Äußerungen. Zunächst mag erstaunen, daß es dabei nicht um Musik geht, sondern vielmehr um Buddhismus im allgemeinen und den deutschen buddhistischen Mönch Martin Steinke und dessen Buch "Das Lebensgesetz" im besonderen. Celibidache lernte Martin Steinke (der seit 1933 den Ordensnamen "Tao Chün" führt) bereits im Jahr 1939 in Berlin kennen, und schon der hier vorliegende Beitrag läßt erkennen, daß dieser Kontakt und die Auseinandersetzung mit dem Buddhismus sehr prägend für ihn gewesen ist. In einer gewissen Art und Weise kann man in dem Artikel jedoch auch eine Reihe von Parallelen zu Celibidaches Musikverständnis sehen.

Der Text wird im folgenden zeichengetreu vollständig wiedergegeben. An manchen Stellen sollte man im Übrigen den zeitlichen Rahmen der Entstehungszeit des Textes (1962) im Auge behalten, denn die Rezeption des Buddhismus im Westen hat sich in den Jahrzehnten danach doch deutlich ausgeweitet und etabliert. Wo es notwendig oder sinnvoll erscheint, v.a. bei buddhistischen Fachbegriffen, wurde eine Worterklärung beigefügt (zu erkennen an der gepunkteten Unterstreichung). Die Erklärung erscheint, wenn der Mauszeiger über das entsprechende Wort bewegt wird. Zusätzlich oder alternativ werden an einigen Stellen weiterführende Links angeboten (am Fettdruck zu erkennen). Anzumerken ist hierzu noch, daß die erläuterten Begriffe in den verschiedenen Schulen des Buddhismus oft eine leicht unterschiedliche bzw. vielschichtigere Bedeutung haben können. Die Vermerke können also nur den Zweck eines ersten, groben Hinweises, nicht jedoch einer verbindlichen Definition haben.


Verstehende sind schwer zu finden

Lebensfragen in buddhistischer Sicht   ·   Von Sergiu Celibidache

Die heute im abendländischen Raum vielfach zu beobachtende Wiederbelebung des Interesses für fernöstliche Philosophie im allgemeinen und Zen-Buddhismus im besonderen kann keineswegs nur als eine vorübergehende Modeerscheinung einer verwirrten Generation gedeutet werden; vielmehr erweist sich dieses wiedererwachende Interesse in ständig noch zunehmenden Grade als ein charakteristisches Merkmal der tiefgreifenden Umwälzung, in die die geistige Welt nach der zweiten schweren Erschütterung dieses Jahrhunderts geraten ist. Im Zusammenhang mit der damit verbundenen Problematik sei an dieser Stelle auf ein soeben erschienenes Werk hingewiesen, auf Martin Steinke - TAO CHÜN: "Das Lebensgesetz". Es nennt sich: eine Antwort auf Lebensfragen aus buddhistischer Sicht. Das Geleitwort stammt von Professor Carl Friedrich von Weizsäcker. (Delp'sche Verlagsbuchhandlung, München. 1962. 250 Seiten, 12,- DM.) Dieses Buch stellt auf dem Wege der immer enger werdenden Beziehungen der spezifisch europäischen Denkweise zu dem von ihr so grundverschiedenen Geist des Fernen Ostens einen bedeutenden Markstein dar. Wenn das Werk, das innerhalb der Entwicklung der spätreifen heutigen Generation auch das Seine zu einem entscheidenden Wendepunkt beitragen könnte, einem häufig verspürten Bedürfnis nach Abklärung entspricht, so will es trotzdem kein Versuch der Verständigung zwischen zwei einander nähergerückten Kulturkreisen sein. Die Arbeit besteht aus einer Reihe von Aufsätzen, die sowohl in sich abgeschlossen sind als auch miteinander in einem engen Zusammenhang stehen, und sie spiegelt letztlich eine einheitliche Einstellung gegenüber sämtlichen Problemen des Lebens wider, wobei sie die Überlegungen von Gesundheit über Angst, Ruhe bis zu Samadhi-Meditation hin umgreift. Schon bei der ersten Betrachtung des vielseitigen Materials stellt sich mit überraschender Klarheit die unerwartete Tatsache heraus, daß die Problematik der Buddha-Zeit allem Anschein zum Trotz mit der unsrigen identisch ist: Leben ist und bleibt, was Leben immer war.

Ob es der heutige Atomforscher mit seinem durch unaufhörliches Spalten nach der letzten Einheit suchenden Scharfsinn oder der damalige wachträumende Hindu mit seiner übersättigten Gefühlswelt ist: die Fragen - die richtigen wie auch die falsch gestellten - bleiben sich mit starrer, ja mit stereotyper Selbsttreue gleich. Und doch hat sich inzwischen vieles verändert, wenn vielleicht auch nicht einmal so sehr die Ausdrucksweise. Denn ein Forscher kann ohne weiteres die feinsten sprachlichen Regungen der damaligen Logik und deren gesetzmäßige Grenzen mit den heutigen vergleichen und identifizieren, und umgekehrt: auch zu der scheinbar viel differenzierteren Begriffswelt von heute ergeben sich, wenn sie mit Hilfe des Kriteriums der konkreten Anschauung geprüft wird, überall direkte Pali-Entsprechungen. Der Salon-Philosoph mit seiner von konventionellen Assoziationen nicht freien Wendigkeit mag bei einer ersten Lektüre den Eindruck gewinnen, daß die Betrachtung der kontrastreichen Fragen und die Vielfalt der entscheidenden Antworten den Versuch darstellen, die aktuellsten Sorgen und Schmerzen der Menschheit mit Hilfe von Analogien zu einer alten, aus dem vorderen Interessenbereich des Menschen etwas in den Hintergrund gerückten Religion des Maßhaltens und des Abwägens sowie mit den gut bewährten Hausmitteln eines vernünftigen, erfahrenen Mannes zu kurieren.

Und doch ist es nicht so: Analogien können wohl aus Oberflächlichkeit, aus Voreingenommenheit oder aus Unsicherheit des noch im Dunkeln tastenden Geistes entstehen; hier aber geht es nicht um Entsprechungen, sondern um absolute Gleichheit. Wenn Tao Chün die Probleme des heutigen Menschen in einzelnen Studien erörtert und sie bis auf ihren zureichenden Grund reduziert, so tut er es nicht, um die Universalität und Zeitlosigkeit der Buddha-Lehre zu beweisen; was ähnlich, gleich, unverändert erscheint, kommt ausschließlich aus der Beständigkeit der menschlichen Natur und ihren Lebensgesetzmäßigkeiten. Wichtig ist vielmehr, daß der direkte Einblick in die Dynamik der Kräfte, deren Zusammenwirken das Leben bedingt, einer jeden Zeit und unter bestimmten Voraussetzungen auch einem jeden einzelnen möglich ist. Das ist die elementare Idee, das ist der bewegende Grund die den Autor geführt haben.

Was diese eigenartige Darstellung der Lehre Buddhas von allen anderen, in der Geschichte der westlichen Philosophie so zahlreichen Schilderungen dieser Art unterscheidet, ist gerade die ihr zugrunde liegende, in die inneren Beziehungen der Grundgedanken und -erkenntnisse eindringenden Anschauung, die nur von jemandem vermittelt werden kann, der sie selbst erlebt hat. So gesehen, hat dieses Unternehmen auch nichts von relativierender Subjekt-Objekt-Beziehung, nichts Schildernd-Interpretatives an sich; es ist vielmehr die direkte Übertragung einer erlebten Erfahrung in lebendige Sprache und Form.

Buddha und seine wiederentdeckte Lehre wurden wiederholt erklärt, verglichen, redimensioniert; doch geschieht es zum ersten Male in der Geistesgeschichte des Westens, daß ein Europäer von einer ganz anderen Basis aus, von der Höhe der selbst angeschauten Gesetzmäßigkeit, einem nach Art und Bildung notwendigerweise anders zusammengesetzten Kreis von Empfangenden diese zeitlose Weisheit vermittelt, und das von einer bestimmten Ebene aus auf eine bestimmte Ebene hin. Nicht die Zeiten, die Erfahrungen, das Alter sind verschieden - - - die Grundhaltung ist gleich. Was wird hier vermittelt?

Die tiefe allumfassende Einsicht in die Totalität aller Lebensgesetze. Diese kann nur aus bestimmten persönlichen Lebensbedingungen erwachsen und kann nur die Folge eines besonderen, vernunft-geführten Lebens sein. Eine solche Einsicht läßt sich auch nicht von außen her und aus analytisch-synthetischem Denken gewinnen und folglich auch nicht in verkehrssicher "zementierten" Sprachformen weitergeben. Was die Grundbegriffe der Buddha-Lehre ursprünglich bedeuteten und bedeuten sollten, muß heute erneut mit unseren eigenen Denkvorstellungen und Denksymbolen erklärt werden. Die Klarstellung dieser Grundbegriffe ist eine unerläßliche Bedingung, und Martin Steinke öffnet hier neue Erkenntniswege. Die Textüberlieferungen bekommen dadurch einen neuen Sinn, der manche Wissenschaftler überraschen dürfte, und zwar einen Sinn, dessen letztgültige Bedeutung nur dann geklärt werden kann, wenn die Kongruenz mit den Grundbegriffen erreicht und manche labile Vorstellung auf ihre ursprüngliche Valenz zurückgeführt worden ist.

Was Gautama Buddha gesagt hat, und was er nicht sagen konnte, soll für den aufgeschlossenen Intellektuellen oder für den dichterisch einsgestellten Idealisten nicht ein Mysterium oder im besten Falle eine angenehme Anregung seiner geistigen Nebentätigkeiten bleiben: Buddha war ein Mensch, und als Mensch hat er gelebt, erlebt und gesprochen. Er stand unter demselben Lebensgesetz wie wir alle. Was er daraus gemacht, was er in seinem menschlichen Leben erreicht hat, geschah nicht auf Grund irgendwelcher übermenschlicher, übernatürlicher, esoterischer Eigenschaften und Umstände; nein, als Mensch hat er seine Erleuchtung erlebt, und als Mensch hat er anderen Menschen den zum Ziele führenden Weg gezeigt.

Seine Lehren wurden von Mund zu Mund weitergegeben, und damals wie heute wußten die Menschen um die sich dauernd verändernde Dynamik der Sprache und um die wechselnde Polarität und Vieldeutigkeit der Begriffe, und sie erkannten, daß keine Niederschrift dieser Reden trotz der ihnen innewohnenden Kraft eine sichere Garantie für die Offenbarung des Ursinnes statt seiner Umhüllung sein konnte. Selbst die in Buddhas Umgebung entstandenen Überlieferungen konnten und konnten auch nicht, können und können auch nicht den ursprünglichen Sinn wiedergeben; auch bei gleichen Denkvoraussetzungen und -methoden vermag die Logik, das heißt statisches Denken, allein ihn nicht zu vermitteln; denn sonst hätten in dem so denk-hochbegabten Abendland nicht so viele unterschiedliche Auslegungen entstehen können. Auch die strengste Bedingtheit der Merkmale aller zur Betrachtung stehenden Faktoren kann durch Polyvalenz der Begriffe und durch die spezifische Beschaffenheit der jeweiligen Sprache aufgehoben werden, was trotz größter Sachlichkeit und Sachkenntnis zu verschiedenen Ergebnissen führen kann. Wer ist in der Lage, beim Versuch, aus dem hintergründigen Zusammenhang der vorliegenden Aussagen die wahre Kontinuität des gesamten Bildes abzulesen, den naheliegenden Zweifel auszuschalten, daß die Interpretation diesbezüglicher Texte nicht nur die Projektion charakteristischer westlicher Vorstellungen auf sanskritische Terminologie ist? Dazu ist allein derjenige befähigt, der dieselben Bedingungen erkannt, ihre Wirkungen erlebt und verwirklicht hat.

Das Wiederherstellen oder - besser gesagt - Richtigstellen des ursprünglichen Sinnes ist einer jeden Zeit möglich und wird immer eine Aufgabe der individuellen Bemühung bleiben. Das beweist Martin Steinkes Leben und Wirken (1.XI.1933 vollordinierter buddhistischer Bikkhu, in Tsi-hia-shan bei Nanking), auf dessen Höhenweg das vorliegende Werk erscheint. Nur einer, der so gegangen ist, kann so sehen. Tathagata Tao Chüns Aussage, die Aussage des "So-Gegangenen", gewinnt dadurch eine einmalige, unverwechselbare Eigenschaft:

Selbst erkannt, was Leiden ist,
selbst erkannt, wie es entsteht,
selbst erkannt seine Aufhebung und
selbst erkannt den dahin führenden Weg.

Außer der Kraft, in dieser Weise bis auf den wahren Grund hindurchzustoßen, besitzt Martin Steinke auch die Fähigkeit, wenn auch in einer sehr persönlichen Sprache und Weise, das von ihm Erkannte weiterzugeben.

Wer im Zuge des wiederaufflammenden Interesses des Westens für orientalische Mystik in dieser Darstellung eine neue Ausdeutung der wohl vermuteten, aber noch nicht entschleierten Geheimnisse einer übernatürlichen Religion sucht, wer seine durch falsche oder richtige Joga-Praxis frei gewordenen Leidenschaften für jegliche Art von Geheimwissenschaft befriedigen will, wer sich der romantischen Beschreibung einer verschwundenen und niemals wiederkehrenden ideellen Welt hingeben und die Emphase des heutigen Menschendramas erleben will, der wird in diesem Buch nichts für sich finden; denn es spricht ausschließlich vom Leben, vom Menschen und vom Heute - vom täglichen Leben, vom heutigen Menschen und vom ewigen Jetzt.

Sollte der Buddhismus wirklich nicht die Philosophie des Pessimismus sein? Ist er denn nicht die leidenssatte Lehre vom Verzicht? Wer wagt, der dunkel-festen Annahme zu widersprechen, daß Buddha das Leben verneinte? Kann Bhante Tao Chün behaupten und uns logik-verwöhnten Dialektikern in lebendiger Weise beweisen, daß der Buddha nicht die Idealisierung des Verzichts, nicht die Dogmatisierung der Entbehrung und Selbstpeinigung, nicht das fatalistische Erdulden lehrte, um dereinst im Jenseits Seligkeit zu erlangen?

In diesen Studien wird ständig und mit immer neuer Begeisterung von Freude und Wohlerfahren gesprochen, und aus den letzten Zeilen eines jeden Kapitels entspringt ausnahmslos mit unbändiger Kraft die wahrhaft ansteckende Freude des erlebten und in pulsierender Weise weitergegebenen Wohles.

Somit mögen ruhige und vernünftige westliche Betrachter heute erstmals erfahren, daß die Buddha-Lehre eine positive Lebenseinstellung darstellt, die nur Menschen gewinnen können, welche die volle Reife und Kontrolle über ihre eigenen Kräfte erreicht haben. Dem logikgeplagten und kombinations-eifrigen Grübler dagegen wird der Zugang zu dem wahren Inhalt diese Werkes nicht leichtfallen: denn weder kann er diese Lehre für seinen Wissensbereich annektieren, noch kann er von ihr erobert werden. Er wird vor der ersten entscheidenden Schwierigkeit lange stehenbleiben. Und diese ist: den grundlegenden Unterschied zwischen dem statischen und dynamischen Denken, also dem Anhaften, dem Beharren, dem ich-bezogenen Denken, und dem klarbewußten Erkennen des unergründlichen, unaufhörlichen Kontinuums der dahinrollenden Lebensgesetzmäßigkeiten, einzusehen und die daraus entstehenden Konsequenzen zu begreifen.

"Verstehende sind schwer zu finden." So war es zu Buddhas Zeit; so ist es heute; so wird es fernerhin sein. Der Wegweiser - der damalige wie der heutige - suchte sie nicht und sucht sie nicht. Mögen viele Wanderer ihn finden!


FAZ DII Feuilleton 28.Juli 1962


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