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München, um 1990

"Wie ein Leuchtturm"

Wilhelm Furtwängler war der Dirigent, der Celibidache am meisten von allen beeindruckt hat, zu dem er die engste Beziehung hatte und auf den er sich am öftesten bezog. So verwundert es nicht, daß in einem im Jahr von Furtwänglers 100.Geburtstag, 1986, erschienenen Buch mit einer Sammlung von Beiträgen über den Dirigenten sich auch ein Text von Sergiu Celibidache findet.
Unter dem Titel "Ein Maß, das heute fehlt  –  Wilhelm Furtwängler im Echo der Nachwelt" stellte der Herausgeber Gottfried Kraus eine umfangreiche Auswahl von Aussagen bedeutender Musiker und von Musikkritikern über Wilhelm Furtwängler zusammen; der Artikel von Celibidache, mit der Überschrift "Wie ein Leuchtturm", stammt aus einem Interview für den holländischen Sender Nederlandse Omroep Stichting (NOS) Hilversum vom Januar 1986, und ist also genaugenommen gar keine orginärer Beitrag des Autors Celibidache. In der Form eines fortlaufenden Textes, ohne erkennbare Interviewer-Fragestellungen, in der die Worte Celibidaches in der erwähnten Veröffentlichung wiedergegeben sind, kommt das Werk einer schriftlichen Äusserung jedoch einigermassen nahe. Darum wird diese im folgenden vollständig und zeichengetreu wiedergegeben.
Überdies enthält enthält dieser Artikel einige wesentliche und von Celibidache immer wieder gebrauchte Kernaussagen, so daß der vorliegende Beitrag als durchaus essentiell für das Musikverständnis Celibidaches angesehen werden kann.


WIE EIN LEUCHTTURM

Sergiu Celibidache

 

»Ich habe seit 1936 in Berlin studiert und ich kann mich kaum erinnern, mit oder ohne Karte, ein Konzert von Furtwängler versäumt zu haben. Denn ich hatte es instinktiv gemerkt, daß es bei ihm um etwas ganz besonderes geht. Als ich dann nach dem Krieg Generalmusikdirektor der Philharmonie wurde, mußte ich direkt mit ihm in Verbindung kommen, und dann entwickelte sich eine unglaublich fruchtbare Zeit für mich. Ich war damals selber noch wie alle anderen Musiker, die so irgendwie anfangen, noch in einer Welt von Zweifel, von Auslegungsmöglichkeiten und so weiter. Ich hatte wohl eine Ahnung von dem, was möglich ist in der Musik, aber wo die Problematik wirklich ist, habe ich erst viel später erfahren. Mein Problem war, daß ich, was ich von meinen Lehrern erfahren hatte, was die geistige Seite der Musik anbelangt, noch gar nicht anwenden konnte. Ich ließ mich vom Klangrausch einfach mitreißen und mit dem Klang habe ich auch meine Erfolge gemacht. Aber, daß ein Klangeffekt irgendetwas im Menschen verursacht, das ist noch nicht Musik, das sind Musikempfindungen, Klangempfindungen  –  Klang kann Musik werden.

Ich hatte schon eine Art natürlicher Neigung für die Theorien der Phänomenologie, die umfangreich sind und die musikalischen Probleme in bezug auf den Menschen lösen. Aber erst nach meiner Berliner Zeit wußte ich, daß Musik nichts anderes ist als die Anwendung dieser menschlichen Möglichkeiten. Mit Furtwängler konnte ich darüber nicht sprechen, er war ein Pragmatiker, war ein Mensch von Instinkt, von einer genialen Intuition. Aber die schönsten Beweise für mein richtiges Denken habe ich von ihm bekommen, obwohl er nie gewußt hat, daß er mir in dieser Weise geholfen hat.

Furtwängler war eine einzigartige Erscheinung. Er ist der erste und der letzte, der einzige, der das Gefühl entwickelt hatte für das, was wir in der Phänomenologie den vertikalen Druck nennen, das heißt die Summe aller Faktoren, die im Jetzt auf uns einwirken; und der einzige, der diesen vertikalen Druck in bezug auf den horizontalen Druck, das heißt auf die Summe aller Faktoren, die auch im Jetzt wirken, aber nicht im Jetzt erscheinen, empfunden hat. Musik ist nichts anderes als dieses Verhältnis! Wenn diese beiden Dimensionen in einer Eins verschwinden, denn der menschliche Geist kann es nur mit der Eins zu tun haben. Er transzendiert sie schnell und kommt auf die nächste Eins, er befreit sich von der ersten, um frei zu sein für die nächste.

Furtwängler war der einzige, der das vermochte. Er wurde nicht dafür geschätzt. Seine Hauptwirkung natürlich  –  er war so ein Hypnotiseur, er hatte eine unglaubliche Macht über Orchester und Publikum, wenn er herauskam, so war Musik in der Luft. Aber sein größter Verdienst war es tatsächlich, der erste zu sein, der gestaltet hat, der mit diesen Phänomenen bewußt umgegangen ist.

Furtwängler war nicht ein guter Dirigent, aber er war ein genialer Musiker. Einmal frug ich ihn zu einer Passage: »Herr Doktor, wie schnell geht das?« Eine sehr offene, physikalische Frage, würde ich sagen. Und was antwortete er mir? »Ach, es hängt davon ab, wie es klingt«. - Also: wie es klingt, kann das Tempo bestimmen! Tempo ist nicht eine Realität an sich, sondern eine Bedingung. Ist da eine enorme Vielfalt, die zusammenwirkt, so brauche ich mehr Zeit, um damit etwas musikalisch anfangen zu können; ist da weniger los, kann ich schneller darüber hinweggehen. Seine Antwort war rein empirisch, für uns Phänomenologen aber ist es eine der wichtigsten Erkenntnisse unserer ganzen Bemühungen.

Solche Erklärungen, die unglaublich tiefempfunden waren, aber in seinem Geist nicht zu einem System gehörten, waren jeden Tag dabei. Für mich eine enorme Bestätigung, denn ich hatte immer schon gedacht, das könne nicht anders sein. In dem Takt 25 müsse alles enthalten sein, was in den 24 Takten vorher ausgesagt war. Dabei war die Identität von Anfang und Ende nicht immer da, er ging auch mit dem Tempo sehr frei um und bisweilen ging auch etwas daneben. Ich erinnere mich an ein Konzert mit der C-Dur-Symphonie von Schubert. Ein wunderbarer erster Satz, ein herrlicher zweiter, ein dritter, Scherzo  –  im Trio ist der Himmel aufgegangen. Und im letzten Satz, Kontraste, Widersprüche, einmal so, einmal so  –  ich habe überhaupt nicht verstanden, was er gemacht hat. Ich konnte nicht denken, daß er etwas falschgemacht hätte, aber: ich habe es nicht verstanden. Also habe ich mich nicht gedrängt, ihn zu sehen. Endlich hat er mich geholt und seine erste Frage: »Wie war es?!« - »Wunderbar, Herr Doktor, der erste Satz, was haben Sie da alles gemacht! Zweiter, dritter  –  herrlich, diese Flöte da, das hat wunderbar geklungen . . .« »Und?! Wie war der vierte?«  –  »Herr Doktor, entschuldigen Sie bitte, ich habe es nicht verstanden!«  –  »Sie haben recht, ich hab's total verhauen!«  –  Daß er das gewußt hat! Daß er selbst unter solchen ungewöhnlichen Bedingungen experimentiert hat, das besagt nur, daß alle seine Reaktionen spontan waren und unvoreingenommen, nicht von einem Wissen abgeleitet, nicht aus irgendwelchen Traditionen, sondern aus dem Jetzt, aus dem herrlichen, unerschöpflichen Jetzt!

Auf Schallplatten ist nicht einmal ein Schatten von Furtwängler geblieben. Er hat es auch genau gewußt, daß die Mikrophone das nicht aufnehmen können. In London hat er einmal eine Platte gemacht mit dem Philharmonia Orchestra. Und dann haben sie es abgehört, und er bekam einen Wutanfall: »Das ist nicht mein Tempo!«  –  Natürlich nicht, denn die Vielfalt, die das Mikrophon aufnehmen kann, und die Vielfalt, die im Raum entstanden war, ist eine andere! Da Tempo nichts absolutes ist, sondern eine Bedingung, damit die Vielfalt reduziert werden kann  –  indem die Vielfalt eine andere war, war das Tempo falsch! Keine Platte kann wiedergeben, was im Raum war, auch heute in digital nicht. Schallplatten sind bestenfalls Photographien eines lebendigen Geschehens. Sicher: es gibt schöne Photographien, aber nehmen Sie etwa Brigitte Bardot  –  das, was sie berühmt gemacht hat, ist doch unphotographierbar ...

Trotzdem: wenn Sie von ihm sprechen, so ist es, als ob er nicht mehr zwischen uns wäre. Nichts ist falscher als das! Das Bißchen, was ich mit ihm erleben durfte, ist mir so wie ein Leuchtturm. Alles, was ich später gemacht habe, habe ich in bezug auf die Erkenntnisse gemacht, die ich von ihm bekommen habe. Es gab niemanden vor ihm und es wird auch niemanden nach ihm geben. Aber er ist nicht Erinnerung! Er ist da, für diejenigen, die Ohren hatten und etwas damit heute anfangen können. Er ist ein formbildendes Element. In jedem Menschen ist die Möglichkeit, Musik so zu gestalten, wie er uns gezeigt hat, daß es möglich ist. Bei ihm sind Kräfte frei geworden, die überall vorhanden sind, erhat uns angesprochen, wie er sich selbst ansprach. Er ist einmalig, und ich betrachte mein Zusammentreffen mit ihm, nicht persönlich, sondern als Hörer wirklich als eine Gnade.«



© 1986 Otto Müller Verlag, Salzburg

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